AGV Dialog-Seminar Berlin

21. September 2018

Nach den Ereignissen in Chemnitz und dem Koalitionsstreit um dieZukunft von Verfassungsschutzpräsident Maaßen fiel das diesjährige Dialog-Seminar der Arbeitsgemeinschaft katholischer Studentenverbände (AGV) vom 18. – 20. September in Berlin in eine aufgeregte Zeit. In den Gesprächen unter Leitung des AGV-Vorsitzenden Johannes Winkel (CV) ging es um den zunehmenden Antisemitismus und Rassismus, um die Zukunft Europas, um die AfD, um unser Parteiensystem und den Zustand unserer freiheitlichen Demokratie, aber auch um die Glaubwürdigkeitskrise der katholischen Kirche. Gesprächspartner der 16 Teilnehmer aus dem AGV-Vorstand und den Vororten von CV, KV und UV sowie dem Ringpräsidium des RKDB waren der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Dr. Felix Klein, der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden Daniel Botmann, Bundestagsvizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich, der ungarische Botschafter Dr. Péter Györkös, der Berliner Erzbischof Dr. Heiner Koch sowie die Journalisten Robin Alexander (WELT) und Christoph Schwennicke (CICERO).

Spannende Gespräche beim Dialogseminar in Berlin

Das erste Gespräch führte die Teilnehmer des Seminars in das Bundesinnenministerium, wo sie mit dem Beauftragten für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus Dr. Felix Klein zusammentrafen. Der 50-jährige Diplomat, vorher im Dienst des Auswärtigen Amtes, hat das von der Bundesregierung im Koalitionsvertrag verankerte neue Amt im Mai 2018 angetreten. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und nicht zuletzt nach der Zunahme antisemitischer Handlungen in Deutschland hielt die Große Koa-
lition die Einrichtung einer solchen ressortübergreifenden Koordinationsstelle für notwendig. Inzwischen ist das zugehörige Referat mit elf Mitarbeitern ausgestattet. Klein verwies darauf, dass es schon viele gute Programme des Bundes im Kampf gegen Antisemitismus gibt. Die Aufgabe des Bundesbeauftragten sei es nun, diese Projekte zu koordinieren und effizienter zu machen. So nannte er unter anderem das
neue Programm „Jugend erinnert“, das auch für Studenten interessant sei. Hier geht es um Formen der Erinnerung, mit denen man vor allem die jüngere Generation anspricht. 

AfD ist mitverantwortlich für die sich verschärfende Debatte

Besorgt zeigte sich Klein über wachsenden Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft. „Wir müssen als Gesellschaft hier klare Grenzen setzen.“ Für die sich verschärfende Debatte zieht er auch die AfD in die Verantwortung. Er glaubt zwar nicht, dass die Partei als Ganze antisemitisch ist, „aber wenn führende Vertreter wie Björn Höcke sich antisemitisch äußern und eine «erinnerungspolitische Wende» um 180° fordern, ist das sehr gefährlich“, stellte der promovierte Jurist fest. Auch wenn Alexander Gauland die NS-Zeit in Deutschland als «Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte» verharmlose, sei dies hochgefährlich. „Er versucht, mit antisemitischen Vorurteilen zu spielen, damit Punkte zu sammeln und immer stärker in die Mitte der Gesellschaft zu drängen“, warnte Klein. Auch dass die AfD sich als Verbündeter Israels und der jüdischen Verbände darstelle, sei ein „durchschaubares Manöver, das sich gegen die Muslime richtet“.

Klein will sich mit Nachdruck dafür einsetzen, dass das Thema Antisemitismus nicht zum Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen wird. „Es muss einen Allparteienkonsens geben, den wir in der alten Bundesrepublik in der Erinnerungskultur jahrzehntelang hatten. Er darf nicht infrage gestellt werden“, mahnte der ehemalige Diplomat. In der Politik sollte ein Klima entstehen, das ganz klare rote Linien zieht.

Deutsche Sicherheitsbehörden haben nach Einschätzung des Regierungsbeauftragten große Probleme, Straftaten gegen Juden richtig einzuordnen. „Die Bekämpfung von Antisemitismus scheitert häufig schon daran, dass er nicht erkannt wird“, sagte Klein. Dass die sächsische Polizei einen Übergriff auf ein jüdisches Restaurant in Chemnitz mehrere Tage lang als versuchte Sachbeschädigung behandelt habe, zeige, dass es beim Erkennen antisemitischer Kriminalität durch die Behörden noch viel zu tun gebe. „Wenn antisemitische Straftaten von den Sicherheitsbehörden als solche erkannt werden, dann werden sie in der Regel auch angemessen verfolgt“, glaubt Klein. Dazu müssten die notwendigen Aufklärungsmaßnahmen gebündelt und die Akteure miteinander vernetzt werden.

Antisemitismus an deutschen Schulen

Es sei überall in Deutschland Realität, dass auf Schulhöfen «Jude» als Schimpfwort gerufen werde. „Wir müssen die Schulen in die Lage versetzen, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Lehrer und Schulleitungen müssen in die Lage versetzt werden, dagegen vorzugehen“, forderte Klein. Es würden Unterrichtsmaterialien benötigt, die nicht nur die Vermittlung des Holocausts im Geschichtsunterricht verbesserten, sondern auch die Geschichte Israels und des Nahost-Konflikts den Schülerinnen und Schülern gegenwärtig mache und Verständnis dafür wecke, warum Israel ein so wehrhaftes Land ist. Dazu gehöre auch der Besuch von Holocaust-Gedenkstätten: „Die können manchmal wirkungsvoll sein, sie müssen aber sehr gut vor- und nachbereitet werden“, betonte Klein.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung forderte ein entschlossenes Eingreifen der Deutschen bei judenfeindlichen Vorfällen. „Unsere Gesellschaft ist jetzt in der Pflicht“, sagte er. Es müsse selbstverständlich sein, dazwischen zu gehen, wenn Juden angegriffen würden. „Wir brauchen eine Kultur der Zivilcourage und müssen die Leute aus ihrer Gleichgültigkeit herausholen“, so Klein. Ein Angriff auf Juden und jüdische Kultur sei auch ein Angriff auf unsere Kultur und unsere Identität.

Versäumnisse bei der Integration von Muslimen

Klein kritisierte zudem Fehler in der Integrationspolitik. „Die Versäumnisse bei der Integration von Muslimen in Deutschland in den vergangenen Jahren rächen sich jetzt.“ Klein weiter: „Wir haben uns nicht darum gekümmert, was da für ein Israel-Bild entstanden ist.“

Außerdem habe es zu wenig Angebote für Muslime gegeben, sich mit der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Dies müsse jedoch wichtiger Teil der Integration sein. „Die Muslime müssen wissen: Wer sich in diesem Land antisemitisch äußert, stellt sich gegen die Gesellschaft.“

Zugleich beklagte Klein ein „Klima der Verrohung“ in Deutschland. Immer mehr Menschen trauten sich, antisemitische Positionen im Internet und auf der Straße zu äußern. Eine solche zunehmend aggressive Rhetorik sei früher undenkbar gewesen; die Hemmschwelle sei erschreckend gesunken.

Bundesweites Meldesystem zur Erfassung antisemitischer Taten

Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung will ein bundesweites Meldesystem zur Erfassung antisemitischer Vorfälle aufbauen: „Wir bekommen so Zahlen an die Hand, wo und wie sich Antisemitismus in Deutschland zeigt. Wir müssen mit den Daten dann passgenaue Gegenstrategien entwickeln“, stellte Klein klar. Als erste Anlaufstelle für die Betroffenen schlägt er die jüdischen Gemeinden vor. Zusätzlich sollte pro Bundesland ein Ansprechpartner bei der Polizei benannt werden. Antisemitismus ist nach Kleins Auffassung mit dem christlichen Menschenbild und dem christlichen Werteverständnis nicht vereinbar. Es gehe heute nicht mehr um die Schuldfrage, sondern wie wir verantwortlich mit unserer Geschichte umgehen.

Über den wachsenden Antisemitismus und seine Auswirkungen wollte die AGV sich auch direkt bei den Betroffenen informieren. Dazu führte der Weg zum Zentralrat der Juden in Deutschland ins Leo-Baeck-Haus, wo ein Treffen mit dem Geschäftsführer der Dachorganisation jüdischer Gemeinden in der Bundesrepublik, Daniel Botmann, vereinbart war.

Er gab zunächst einen Überblick über die Stukturen und die Verfasstheit des Zentralrats, der als Körperschaft öffentlichen Rechts unter seinem Dach 23 Landesverbände und 105 Jüdische Gemeinden vereint und deren politische und gesellschaftliche Interessen vertritt. Er ist für die Politik auf Bundes- und Länderebene Ansprechpartner für alle Themen, die die jüdische Gemeinschaft betreffen.

Über 200.000 Juden leben in Deutschland

Seit 1990 seien etwa 220.000 Menschen im Zuge der jüdischen Zuwanderung – vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion – nach Deutschland gekommen, wusste Botmann zu berichten. Mehr als die Hälfte von ihnen hätten den Weg in die jüdischen Gemeinden Deutschlands gefunden, deren Mitgliederzahl er auf etwa 110.000 bezifferte. „In manchen Gemeinden stiegen die Mitgliederzahlen dadurch um fast 90 Prozent“, erklärte der Rechtsanwalt. Nach Frankreich und England habe Deutschland die drittgrößte jüdische Gemeinschaft in Europa. Die Zahl der in der Bundesrepublik lebenden Juden, die nicht in den Gemeinden organisiert sind, werde nochmals auf gut 100.000 geschätzt, sagte Botmann.

Die Zuwanderer mussten in die deutsche Gesellschaft und zu einem großen Teil auch in den eigenen Glauben integriert werden. Diese Aufgabe sei für den Zentralrat zu einer der größten Herausforderungen seit seiner Gründung 1950 geworden. Wir haben intensiv in Integrationskurse und politische Bildung investiert“, betonte der Geschäftsführer. Integration könne gelingen, wenn der Wille dazu vorhanden sei.

Gefahren für Rechtsstaat und die Demokratien Europas

Auch zeigte Daniel Botmann sich besorgt, dass überall in Europa rechtspopulistische Parteien entstehen: „Tag für Tag werden wir Zeugen, wie diese Bewegungen sich Stück für Stück in die politische Mitte voran arbeiten.“ Der rechte Antisemitismus – ob aus dem national-konservativen, dem rechtspopulistischen und auch rechtsextremen Milieu – scheine vor dem zu beobachtenden Angriff von rechts auf die Demokratien Europas besonders bedrohlich, glaubt Botmann. Er wende sich nicht nur gegen Minderheiten, sondern stelle einen fundamentalen Angriff auf ein liberales und plurales Verständnis von Demokratie dar. „Ich kann mich aber manchmal nicht des Eindrucks erwehren, dass noch nicht alle verstanden haben, wie groß die daraus resultierenden Gefahren für unseren Rechtsstaat und die Demokratien Europas sind“, mahnte der schon kurz nach seiner Geburt in Tel Aviv mit seinen Eltern und seinem Bruder nach Deutschland ausgewanderte und in Trier aufgewachsene Daniel Botmann.

Muslimischer Antisemitismus

„Neben dem klassischen Antisemitismus von rechts und von links stellt uns zudem der Antisemitismus unter Muslimen vor große Herausforderungen“, so Botmann. Dies gelte umso mehr vor dem Hintergrund der notwendigen wertegebundenen Integration derjenigen Menschen, die vor Krieg und Terror zu uns geflohen seien. Sich bei der Benennung dieser Probleme gegen rechte Volksverhetzer abzugrenzen, bleibe ebenso die Aufgabe aller Demokraten, wie in den Blick zu nehmen, dass Muslime derzeit häufig selbst Ziele der Antidemokraten von rechts außen sind.

Berechtigte Kritik an Entscheidungen der israelischen Regierung kann nach Ansicht von Botmann durchaus legitim sein. Allerdings wenn der Staat Israel in eine Gesamtverantwortung genommen und wenn ihm das Existenzrecht abgesprochen werde, sehe er eine Situation er- reicht, in der man Israel sagt und Juden meint.

Schmerzgrenze überschritten

Daniel Botmann bezeichnete es als inakzeptabel, wenn jüdische Kinder auf Schulhöfen gemobbt, beleidigt oder bedroht werden. „Wenn in Deutschland Israelfahnen verbrannt werden, wenn Juden geraten wird, in bestimmten Bezirken keine religiösen Symbole mehr zu tragen, dann ist eine Schmerzgrenze erreicht“, klagte Botmann.

AfD ist kein Gesprächspartner für den Zentralrat der Juden

Mit Blick auf die AfD machte Botmann ganz klar deutlich: „Wer einen Wolfgang Gedeon und einen Björn Höcke in den eigenen Reihen duldet, wer von «Umvolkung» und von Beendigung des «Schuldkultes» redet und gegen Minderheiten hetzt, ist kein Gesprächspartner für den Zentralrat der Juden.“ Auch wenn sie sich dabei auf perfide Weise an die jüdische Gemeinschaft anbiedere und noch so viele Israelfahnen auf Pegida- oder sonstigen Demonstrationen geschwenkt würden.

Antisemitismus sei kein Problem der jüdischen Minderheit, sondern ein genuines Problem der Gesamtgesellschaft, so Botmann. An dieser Einsicht fehle es aber vielfach noch. Nur wer sich wirklich betroffen fühle, handle auch. Der Zentralrat der Juden erwarte von Politik und Zivilgesellschaft in Deutschland, dass sie tätig werden. „Jeder einzelne Bürger ist ein Multiplikator für demokratische Werte“, betonte Daniel Botmann. Junge Menschen seien nicht schuldig an den Taten früherer Generationen, aber sie hätten eine Verantwortung vor der Geschichte.

Auch Bundestagsvizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (KV) betonte bei seinem Gespräch mit der AGV, Deutschland müsse mit aller Entschlossenheit und mit allen Mitteln des demokratischen Rechtsstaats gegen Antisemitismus vorgehen. „Wer das nicht akzeptiert, verlässt den gesellschaftlichen Konsens“, bekräftigte wie zuvor schon Felix Klein auch der ehemalige Bundesinnenminister.

Einstehen für das Existenzrecht Israels

Friedrich glaubt nicht, dass in Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft wirklich möglich ist. Entweder entstünden Parallelgesellschaften – was man sich am Beispiel Frankreichs vor Augen führen könne – oder die zu uns kommenden Menschen müssten unsere Regeln akzeptieren und dazu gehöre auch das Einstehen für das Existenzrecht Israels. In diesem Zusammenhang verwies er darauf, dass der Islam in Deutschland sehr vielschichtig ist. So gebe es keine einheitliche Vertretung – wie etwa bei der katholischen und der evangelischen Kirche. Beispielsweise stünden hinter dem Zentralrat der Muslime nur etwa 10 % der muslimischen Bevölkerung. Auch die Probleme mit DITIB, einer vom türkischen Religionsministerium gesteuerten und instrumentalisierten Organisation, seien bekannt.

Der ehemalige Bundesinnenminister gestand offen ein, dass er die Entscheidung von Bundeskanzlerin Merkel im Jahr 2015, Asylsuchende aus Ungarn unkontrolliert ins Land zu lassen, für falsch gehalten habe und schon damals auf den Verlust der Kontrolle und die Spätfolgen hingewiesen habe. Die Union habe durch ihre Flüchtlingspolitik der letzten Jahre Vertrauen und einen Teil ihrer Identität und Integrationskraft verloren. „Ob sie sie wiedergewinnen kann, bleibt abzuwarten“, sagte Friedrich.

Der CSU-Politiker beklagte, dass das Flüchtlingsthema in den heutigen Diskussionen alle anderen Fragen überlagere. Dabei sieht er zwei Pole: Einmal die AfD, die für eine weitgehende Abschottung plädiere, und zum anderen Bündnis 90/DieGrünen, die die Willkommenskultur voll und ganz weiter aufrecht erhalten wollen. „Alle, die einen Weg dazwischen suchen, werden gar nicht gehört.“

Neue Vielfalt im Bundestag

Die neue Vielfalt im Deutschen Bundestag mit 6 Fraktionen und 7 Parteien sieht der CSU-Politiker eher gelassen. Die parlamentarische Arbeit sei dadurch zwar nicht leichter geworden, aber die Wähler hätten so entschieden und nun müsse man damit umgehen. Friedrich gestand zu, dass sich die Stimmung im Bundestag verändert habe und der Ton durch den Einzug der AfD rauer geworden sei. Man sei sich früher, unabhängig von der politischen Couleur, mit Respekt und Achtung begegnet. Dies treffe heute vielfach leider nicht mehr zu.

Im nächsten Gespräch mit dem ungarischen Botschafter Dr. Péter Györkös rückte die Zukunft Europas in den Fokus, speziell im Blick auf die Wahlen zum Europaparlament im nächsten Jahr.

Abschottung gegen Flüchtlinge, Attacken gegen die EU, Rechtstaats-Abbau – das Ungarn-Bild in Deutschland ist nicht das beste. Der ungarische Botschafter war daher bemüht, die Politik seiner Regierung zu erklären. „Mein Wunsch ist, dass Deutschland und Europa besser verstehen, warum wir so ticken, wie wir ticken. Es ist auch für die Ungarn wichtig, die Deutschen zu verstehen“, so Péter Györkös in fließendem Deutsch.

Die europäische Flüchtlingspolitik war nach Auffassung der ungarischen Regierung Gift für den Zusammenhalt Europas. „Ungarn ist nicht antieuropäisch, wir wollen vielmehr Europa wieder stärker machen. Wir kritisieren aber Entscheidungen, die gegen die fundamentalen Interessen einzelner Mitgliedsstaaten getroffen werden“, betonte der ehemalige Vertreter Ungarns bei der EU.

„Nehmen Sie die Einhaltung der eigenen Regeln: Haushalt, Schengen oder Dublin. Unsere Wahrnehmung ist, dass diejenigen, die EU-Recht brechen, belohnt werden und dass diejenigen, die EU-Recht umsetzen, attackiert werden“, sagte der Botschafter. Als Beispiel führte er die EU-Haushaltsregeln an. Der Stabilitätspakt werde ständig verletzt, aber Sanktionen habe es nur einmal gegeben, gegen Ungarn. „Übrigens gegen das Land, das als erstes unter den Schutzschirm von EU-Kommission und IWF eilen musste und einige Jahre später seine Schulden bis zum letzten Cent zurückgezahlt hat“, stellte Györkös klar. Umgekehrt sei es bei der Sicherung der Schengen-Außengrenzen. Ministerpräsident Orbán habe 2015 gesagt, dass er die Schengen-Regeln umsetzen werde. Das sei aber nur mit einem Zaun gegangen, weil sich sonst die illegal einströmenden Menschen nicht aufhalten ließen. „Orbán hat also die Schengen-Regeln umgesetzt. Aber was hat er dafür bekommen? Beschimpfungen“, echauffierte der Botschafter sich. Außerdem spreche man viel über Orbán, aber nur wenige redeten mit ihm.

Der Schutz der Außengrenzen müsse deutlich verbessert werden. Die Visegrád-Staaten – Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei – hätten angeboten, neben dem konsequenten Schutz der eigenen Außengrenzen den Schutz der libyschen Grenze zu finanzieren. Außerdem bedürfe es mehr Abkommen mit Nachbarländern wie beim EU-Türkei-Pakt. „Und wir brauchen humanitäre Hilfe und müssen die Fluchtur- sachen effektiver bekämpfen“, forderte der Botschafter.

Ungarn gehöre zu den Ehrlichsten in Europa, „weil wir auch unseren Freunden klar sagen: Was ihr tut, ist gefährlich“, meinte Péter Györkös. Man könne die Zuwanderung unter- schiedlich beurteilen. „Wir Ungarn maßen uns aber nicht an, den Deutschen zu sagen, wie sie damit umgehen sollen, aber wir lassen es auch nicht zu, dass die Deutschen oder Brüssel uns das vorschreiben“, so der Botschafter. Dann zählte er auf, was Ungarn in den letzten 10 Jahren geleistet hat. Dabei stellte er besonders heraus, dass sein Land die am meisten verfolgte Minderheit im Nahen Osten und Afrika, die Christen, besonders unterstütze.

Ministerpräsident Orbán wolle die christdemokratische Idee der Gründungsväter eines geeinten Europa in einer modernisierten Form neu in die Diskussion bringen und damit auch eine bürgerlich-konservative Wende in der Europäischen Volkspartei (EVP) erreichen. „Er ist auch bereit, die Kommission als Hüterin der europäischen Verträge zu akzeptieren“, betonte Györkös.

Zur aktuellen Krise in der katholischen Kirche

Zu einem weiteren Gespräch empfing der Berliner Erzbischof Dr. Heiner Koch (CV) die AGV-Delegation im erzbischöflichen Ordinariat. Im Vordergrund des Austauschs stand die aktuelle Krise in der katholischen Kirche wenige Tage vor der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz, bei der die Beratung der jüngsten von den Bischöfen in Auftrag gegebenen Missbrauchs-Studie anstand. „Ich empfinde Scham, dass so viele Taten verschleiert und die Täter nicht angemessen zur Rechenschaft gezogen wurden, dass das Ansehen der Kirche über den Schutz der Opfer gestellt wurde“, bekannte der Berliner Oberhirte: „Schweigen und Vertuschen geht gar nicht.“ Bei Strukturen und Rahmenbedingungen solle nun im Erzbistum geprüft werden, inwieweit sie Missbrauch begünstigt oder ermöglicht hätten. Es gelte, eine „Kultur der Achtsamkeit und des Hinsehens“ zu erreichen und sehr genau auf Zusammenhänge zu schauen, „die zwischen der priesterlichen Lebensform und Fällen von sexuellem Missbrauch bestehen“, betonte Koch. Er ist überzeugt, dass das Thema noch lange auf der Tagesordnung stehen wird. Es dürfe allerdings kein Generalverdacht entstehen.

Auch er verurteilte jegliche Form von Antisemitismus und Rassismus und verwies auf die historische Verantwortung der Deutschen. Er hob in diesem Zusammenhang das gute Verhältnis zur jüdischen Gemeinde in der Bundeshauptstadt hervor.

Heiner Koch beklagte, dass zu wenige Christen heute in der Politik aktiv sind und ermutigte die Studenten in den katholischen Studentenverbänden, sich zu engagieren. Er hob hervor, dass die Verbände sich ein klares Profil geben, aber gleichzeitig offen bleiben müssten. „Sie bieten heutigen Studenten eine Heimat an den Hochschulen und wirken dem Trend zur Individualisierung entgegen. Dafür danke ich Ihnen“, sagte der Erzbischof zum Schluss der Diskussion.

Tour d’Horizon durch die aktuelle Politik

Zu den Dialog-Programmen der AGV gehört auch immer das Gespräch mit Medienvertretern. In diesem Jahr trafen die Studenten den Chefredakteur des Polit-Magazins CICERO, Christoph Schwennicke, und den Chefreporter der Tageszeitung WELT, Robin Alexander. „Als Verantwortungsträger in unseren Verbänden teilen wir die Sorgen, die wir in unserer Gesellschaft wahrnehmen. Es ist für uns wichtig, mit Medienleuten solche Themen noch einmal vertieft zu reflektieren“, betonte der AGV-Vorsitzende Johannes Winkel. Die diesjährigen Gespräche waren durch die spannende Aktualität der Entwicklungen in diesen Tagen und interessante Hintergrundin- formationen geprägt. Mit den beiden Spitzenjournalisten wurde ein breites Spektrum aus der aktuellen Politik angesprochen – zum Beispiel die permanente Koalitionskrise, die Zukunft der GroKo und der Kanzlerin, der Aufstieg der AfD und die Folgen, die Risse in der deutschen Gesellschaft, der rasante Abstiegstrend bei CDU, CSU und SPD, der Islam in Deutschland, die Perspektiven für die neue linke Bewegung von Sarah Wagenknecht. Aber auch außenpolitische Fragen wie die Beziehungen zu den USA und zur Türkei. Die hier gewonnenen Erkenntnisse ausführlich zu schildern, würde allerdings einen eigenen Artikel erfordern.

Am Ende des Seminars konnte Johannes Winkel zufrieden auf drei spannende und interessante Tage zurückblicken. „Wir haben wichtige Impulse für die Weiterarbeit in unseren Verbänden erhalten, vor allem für unser geplantes Positionspapier zu Rassismus und Antisemitismus“, so sein Fazit.

VON HERMANN-JOSEF GROSSIMLINGHAUS (UV)

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