AGV-Seminar im Zeichen der Bundestagswahl

03. Oktober 2017

Vom 24.–26. September 2017 trafen sich im Rahmen des Dialogprogramms der Arbeitsgemeinschaft katholischer Studentenverbände (AGV) e.V. in Berlin 15 Teilnehmer aus dem AGV-Vorstand, den Vororten von CV, KV und UV sowie dem Ringpräsidium des RKDB zu Hintergrundgesprächen mit Vertretern aus Kirche, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft.
Wie bereits die Terminsetzung vermuten ließ, stand das diesjährige Berlin-Seminar der AGV ganz im Zeichen der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag und ihrer gesellschaftspolitischen Hintergründe. Nachdem am frühen Sonntagabend die ersten Hochrechnungen mit großer Spannung und einigem Erschrecken beobachtet wurden, bildete der Besuch der live-Sendung „Wahlstudio“ im ZDF den offziellen Auftakt des Seminars. Unter der Moderation von Bettina Schausten standen die Analyse der vorläufigen Zahlen sowie Einschätzungen über das Zustandekommen der sogenannten Jamaika-Koalition auf Bundesebene sowie das allgemeine Besorgnis hervorrufende Wahlergebnis der AfD im Vordergrund.
Am nächsten Vormittag trafen die Seminar-Teilnehmer mit P. Max Cappabianca OP zusammen, der seit April die Katholische Studierendengemeinde Edith Stein leitet. Der Dominikanerpater berichtete anschaulich vom Spannungsverhältnis zwischen dem gelebten christlichen Glauben und der mehrheitlich säkular geprägten Gesellschaft, das seine neue Tätigkeit in Berlin kennzeichne und das er humorig als „arm, aber sexy“ charakterisierte: Zwar bilde die Zahl der jungen Menschen, die aus allen Teilen der Großstadt regelmäßig zu den Veranstaltungen der KSG im Hipster-Viertel Prenzlauer Berg kommen, nur einen verschwindet geringen Prozentsatz der rund 200.000 Studierenden aller Berliner Hochschulen, dafür zeuge aber die oft weite Anreise und die gezielte Inanspruchnahme der unterschiedlichen Angebote für einen sehr bewussten Glaubensvollzug und den starken Wunsch nach Austausch mit Gleichgesinnten.
Eine besondere Stütze für das Gemeindeleben bildeten nach Aussage von P. Max nicht zuletzt viele junge Christen, die in den letzten Jahren nach Deutschland geflüchtet sind – aus ihrer Heimat an das Leben als religiöse Minderheit gewöhnt, strahlten sie häufig größere Glaubensfreude und Bekennermut aus als man von Gleichaltrigen unserer Breitengrade gewöhnt sei. So ermutigte er die Teilnehmer in der gemeinsamen Messfeier im Anschluss an das Gespräch, auf die verborgene Gegenwart Gottes im eigenen Leben zu vertrauen und sie durch sein Handeln im Alltag auch für Außenstehende wahrnehmbar zu machen, ähnlich einem Licht, das man auf einen Leuchter stellt.
Das darauffolgende Gespräch mit Prälat Dr. Martin Dutzmann, dem Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei der Bundesrepublik und der Europäischen Union, widmete sich aktuellen Fragen zur Zusammenarbeit von Politik und Kirchen. Dutzmann erläuterte zunächst sein Aufgabenfeld, das im Wesentlichen identisch mit der Tätigkeit seines Amtskollegen Prälat Karl Jüsten vom Katholischen Büro sei, der in den vergangenen Jahren schon mehrfach Gast im Dialogprogramm der AGV war. Beide verstehen sich weniger als Lobbyisten ihrer Kirche, sondern vielmehr als „Interessensvertreter der Menschlichkeit“ und damit all derer, die anderenfalls oft ohne hörbare Stimme im politischen Geschehen seien: Kranke und Sterbende, Hilfsbedürftige und Schutzsuchende. Neben seelsorgerischen Angeboten für die Abgeordneten und Angestellten des Bundestages stelle deshalb die Erarbeitung differenzierter Stellungnahmen zu ethisch und sozial relevanten Gesetzesentwürfen die Hauptaufgabe der kirchlichen Vertretungen dar, seien sie von der Regierung oder einzelnen Parteien ausdrücklich angefragt oder aber auf Eigeninitiative vorgebracht.
Als aktuelles Beispiel nannte der Bevollmächtigte die Problematik von Geflüchteten muslimischer Herkunft, die sich bereits vor ihrer Flucht oder während ihres Aufenthalts in Deutschland taufen lassen und sich deshalb in ihrer Heimat der wachsenden Gefahr religiöser Verfolgung ausgesetzt sehen. Während die Politik mitunter bestrebt sei, die Konversion zum Christentum als Schaffung eines „nachträglichen Fluchtgrunds“ abzutun, treten die Kirchenvertrer für die Anerkennung der freien Religionsausübung ein. Dabei betonte Dutzmann, dass im weitaus größten Teil der gemeinsamen Stellungnahmen kein Blatt zwischen die Position der beiden Konfessionen passe. Ebenso würden sämtliche Großgottesdienste wie etwa zur Eröffnung des parlamentarischen Jahrs oder zum Adventsbeginn außnahmslos ökumenisch gefeiert – etwas Anderes sei im säkularen Umfeld Berlins überhaupt nicht zu rechtfertigen.
Mit dem Treffen mit Prof. Dr. Eva Inés Obergfell, der Vizepräsidentin für Lehre und Studium an der Humboldt-Universität, rückte die Bildungspolitik ins Blickfeld des AGV-Seminars. Von einer zu erwartenden schwarz-grün-gelben Koalition erhoffe sie sich, dass das Thema Bildung kontrovers diskutiert und damit wieder auf die politische Agenda gerückt werde. Aus ihrer täglichen Erfahrung sprach sie über Probleme, welche die zunehmende Spezialisierung der Master-, aber auch der Bachelorstudiengänge mit sich bringe. So fördere diese zwar die Profilierung einzelner Lehrstühle und trage somit zum akademischen Wettbewerb im Sinne der Exzellenzinitiative bei, erschwere andererseits aber die im Blogna-Prozess angestrebte nationale und internationale Anschlussfähigkeit der Abschlüsse.
Das von der AGV vorgebrachte Thema der Wertschätzung und Berücksichtigung des Ehrenamts und sozialen Engagements von Studierenden im Hinblick etwa auf die BAföG-Bewilligung wurde von der Vizepräsidentin nachdrücklich unterstützt: Ehrenamtliches Engagement neben dem heute weit verbreiteten „Sprintstudium“ diene der ganzheitlichen Charakterbildung, die im Sinne eines humboldtschen Bildungsideals für künftige Verantwortungsträger der Gesellschaft unersetzlich sei. Eine wichtige Rolle spiele der Anspruch auf Ganzheitlichkeit insbesondere auch in Bezug auf die Digitalisierung des Studiums. Hier gelte es, die Zugänglichkeit der Lehrinhalte zu optimieren, ohne den persönlichen Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden einzuschränken.
Der Abend fand seinen würdigen Abschluss mit dem längst zur Tradition gewordenen Besuch in der „Ständigen Vertretung“, einem urigen Zeugnis rheinischer Kneipenkultur in augenzwinkerndem Gedenken an die Bonner Republik. Bei geselligem Beisammensein und frisch gezapftem Kölsch bot sich den Seminarteilnehmern hier die Möglichkeit zum ungezwungenen Kennenlernen der Amtskollegen der anderen Vororte und zum fröhlichen Austausch zwischen den Verbänden.
Der Vormittag des folgenden Tages weitete den Fokus des Seminars für den europäischen Rahmen: Zunächst schilderte Richard Kühnel (ÖCV), Vertreter der Europäischen Kommision in Deutschland, seine Vorstellungen über Zweck und Ziel der EU und gab eine Einschätzung zu ihrer gegenwärtigen Lage. Er betonte dabei ausdrücklich, welch beeindruckende Errungenschaften das Staatenbündnis seit seiner Gründung hervorgebracht habe und auf welch hohem Niveau die internationale politische Debatte geführt werde – nicht zuletzt aufgrund der Vorreiterrolle Deutschlands. Im Hinblick auf das Abschneiden der AfD als drittstärkste Kraft im Bundestag wies Kühnel darauf hin, dass weniger das gegenwärtige Erstarken rechtspopulistischer Strömungen überhaupt Anlass zur Verwunderung gebe, als dass es im Vergleich zu den europäischen Nachbarländern in Deutschland verhältnismäßig spät zu beobachten sei. Als politische Kur forderte er im Anschluss an Kommisionspräsident Junker, den Zusammenhalt der 27 Mitgliedstaaten zu stärken, wozu die EU-Politik besser kommuniziert und der „Wind in den Segeln“ genutzt werden müsse. Es sei dringend geboten, nicht unablässig über die Rechtspopulisten zu reden, sondern sie in der direkten Auseinandersetzung mit der Unzulänglichkeit nationaler Lösungsansätze zu konfrontieren.
In diesem Zusammenhang erläutere der EU-Vertreter sein Verständnis von Souveränität, welche die Verbindung von innenpolitischer Selbstverwaltung und außenpolitischer Durchsetzungsfähigkeit eines Staates bezeichne. Um die eigenen Interessen gegenüber denen der Anderen durchsetzen zu können, bedürfe es jedoch der Begegnung auf Augenhöhe. Aus diesem Grund sei ein Staat wie die Schweiz trotz gegenteiligen Eindrucks weniger souverän als etwa Österreich, da dieses einen festen Platz an dem Tisch habe, an dem seine wirtschaftlichen Interessen im europäischen Binnenmarkt verhandelt werden, während die Schweiz keinen aktiven Einfluss auf die internationalen Entscheidungen nehmen könne und ihr rein reagierendes Handeln stattdessen als „autonomen Mitvollzug“ beschönige – eine Situation, deren ernüchternde Konsequenzen gemäß Kühnels Einschätzung Großbritanien nach dem Vollzug des Brexit auf schmerzhafte Weise zu spüren bekommen werde.
Eine ähnliche Bewertung des Brexit zeichnete der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, Dr. Hans-Gert Pöttering, der von 2007–2009 Präsident des Europäischen Parlaments war. Obgleich sich alle vernünftigen Kräfte einen anderen Ausgang gewünscht hätten, sei das Referendum Großbritaniens nicht aus heiterem Himmel gefallen, habe doch das über Jahre anhaltende Schlechtmachen des EU-Parlaments durch einige konservative Abgeordnete einen tiefen Vertrauensverlust in der englischen Bevölkerung bewirkt. Dieser auch in Deutschland nicht seltenen Haltung sei am wirkungsvollsten mit dem Verweis auf die beispielslose Erfolgsgeschichte der Rechtsgemeinschaft EU und der gebotenen Stärkung des europäischen Identitätsgefühls zu begenen. Der dreifache Identitätsbezug zur eigenen Heimat, zur Nation und zum geeinten Europa gehöre untrennbar zusammen, sodass jede Verabsolutierung einer der politischen Ebenen gefährliche Konsequenzen nach sich ziehe, so Pöttering weiter. Die Europäische Union müsse sich wieder stärker ihrer internationalen Bedeutung als Wertegemeinschaft bewusst werden – zuvorderst hätten die gemeinsamen Grundüberzeugungen wie Menschenwürde, freiheitliche Demokratie und Solidarität zu stehen, erst als Resultat daraus legitimiere sich die Formulierung eigener Interessen.
Für die bevorstehenden Brexit-Verhandlungen und die weitere Zukunft der EU warnte er vor undifferenzierter Lagerbildung – die Briten, die Deutschen – und mahnte zur sprachlichen Deeskalation. Es gebe historische Entscheidungen, die zum Zeitpunkt, zu dem sie gefällt werden, keinen dementsprechenden Anschein erwecken. Aus diesem Grund müsse das benediktinische Maß der Mitte leitend sein, was im Bezug auf Großbritanien bedeute, dem ausscheidenden Mitgliedstaat so weit wie möglich entgegenzukommen, ohne dabei den Eindruck einseitiger Bevorteilung aufkommen zu lassen.
Den Abschluss des Seminars bildete das Gespräch mit Peter Clever, der als Geschäftsführungsmitglied der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) die Reihe der Dialogpartner mit einer wirtschaftspolitschen Facette abrundete. Die Funktion der BDA als Dachverband umriss Clever mit der anspruchsvollen Aufgabe, die Interessensgegensätze ihrer Mitgliedsverbände auszugleichen, um mit einer Stimme an Öffentlichkeit und Politik herantreten zu können. Die Vermittlung zwischen den Verbänden, die etwa Interesse an einem möglichst hohen Energiepreis haben, und denen, die für ihre Produktion auf niedrige Energiekosten angewiesen sind, führe zu einem äußerst realpolitischen Kurs. So seien die Wirtschaftsvertreter entgegen ihres oft schlechten Images regelrechte „Botschafter der sozialen Marktwirtschaft“, da nur eine am Gemeinwohl orientierte Politik gesellschaftliche Stabilität und somit dauerhafte Investitionsanreize garantiere. Für eine stabile Sozialpartnerschaft sei dabei ein gutes Gleichgewicht zwischen der ordnenden Funktion von gewerkschaftlich erzielten Tarifverträgen und gesetzlich gewährleisteter Freiräume zum Erhalt der wirtschaftlichen Anpassungsfähigkeit erforderlich.
Mit Blick auf den Wahlerfolg der AfD ist Clever überzeugt, dass der Einzug eininger Rechtspopulisten in den Bundestag zwar noch lange nicht Deutschlands Attraktivität als Wirtschaftsstandort schmälere, dass aber die Erungenschaften des europöischen Binnenmarkts kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis langer politischer Anstrengen seien, die nicht als Selbstverständlichkeiten betrachtet werden sollten. Gleichzeitig bedürfe die gegenwärtige Politik einer großen Sensibilität gegenüber Menschen, die sich durch die rasanten Veränderungen des Arbeitsmarkts im Zuge der Digitalisierung abgehängt fühlen. Insbesondere im Bereich der Fort- und Weiterbildung sowie der Rentenversorgung hält Clever eine stärkere Kooperation zwischen der Arbeitsargentur, den Sozialverbänden und der Sozialgesetzgebung für drigend notwendig. Abschließend formulierte er seine persönliche Spekulation, dass sich eine mögliche Regierungsbeteiligung der Grünen etwa im Bereich der Rentenpolitik positiv auswirken könnte, da die Partei aufgrund ihrer Orientierung am Prinzip der Nachhaltigkeit häufig einen klareren Blick für die Langzeitfolgen heutiger Entscheidungen habe.
Am Ende des dreitägigen Dialogseminars zogen die Teilnehmer ein durchweg positives Résumé: Die einzelnen Gespräche beleuchteten die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge der diesjährigen Bundestagswahl aus den verschiedensten Perspektiven und fügten sich zu einem runden Gesamteindruck mit zahlreichen Eindrück für die politische Arbeit der Studentenverbände. Die Vertreter der einzelnen Vororte dankten dem AGV-Vorstand für die Gelegenheit zum internen Austausch sowie die gute Vorbereitung und reibungslose Durchführung des Seminars.

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